Wahrscheinlich erleben die meisten von uns Zeiten, in denen die Dinge anscheinend mit einer solchen Endgültigkeit auseinander fallen, dass wir gezwungen sind, unsere angenommenen sozialen Identitäten aufzugeben und nach Hause zu kommen zu der einzigen Identität, die übrig bleibt – Wer wir wirklich sind. Diese Erfahrungen mögen dem Ratschlag zugrunde liegen, der oft auf „Sehen“-Workshops gegeben wird, dass ein paar Probleme eine gute Möglichkeit sind, sich daran zu erinnern, Wer wir sind. Denn wenn uns im Leben etwas nicht gelingt, können wir immer den Zufluchtsort finden, an dem nichts schief gehen kann.
Allerdings ist meine Erfahrung, dass mich Probleme nicht immer nach Hause bringen – es geschieht nicht automatisch von selbst. Und es ist nicht so, dass ich nur wenige Probleme hätte. Meine Welt scheint zeitweise von Problemen überschwemmt zu werden. In Anbetracht dieses Umstands wünschte ich mir eine Art Werkzeug, das ich benutzen kann, um nach Hause zu finden, wenn ich vor einem Problem stehe. Da für mich die effektivsten Hilfsmittel Workshop-Übungen sind, bei denen ich experimentieren muss und nicht nur nachdenken, habe ich versucht, ein Experiment zusammenzustellen (mit Bestandteilen aus existierenden Experimenten), an dam ich mich orientieren kann, wenn das Leben schwierig ist. Der Rest dieses Essays wird dich durch das Experiment geleiten, als wenn du es durchführtest. Natürlich wirst du am meisten daraus mitnehmen, wenn du es nach dem Lesen tatsächlich ausprobierst.
Suche dir am Anfang ein Problem aus, das dich beschäftigt. Du könntest es auf ein Stück Papier schreiben und das Papier dann in deine linke Hand nehmen, oder du stellst dir vor, dass die linke Hand selbst das Problem repräsentiert. Hebe dann deinen linken Arm in einem Winkel von etwa 45 Grad an, nach links vorne gestreckt, und schaue auf das Problem da draußen am entfernten Ende deines Arms. Mache dir klar, wie komplex es ist, wie temporär es ist in dem Sinne, dass es einen Anfang hat, und wie partiell es ist in dem Sinne, dass es sich – auch wenn es groß erscheinen mag – in Wahrheit vor einem größeren Hintergrund präsentiert. Mache dir auch klar, dass das Problem Gefühle von Besorgnis und Kummer oder Mut und Entschlossenheit inspiriert und hervorbringt. Aber vor allem solltest du registrieren, dass sich das Problem da draußen in der Welt am entfernten Ende deines Arms befindet.
Der zweite Schritt, während du weiterhin auf das Problem am entfernten Ende des Arms schaust, besteht darin, deine Aufmerksamkeit den Arm herunter zu geleiten, über den Ellenbogen zur schattenhaften Schulter am unteren Bildrand, und dann weiter aus dem Bild heraus in die Leere. Gibt es am nahen Ende deines Arms einen Kopf, eine andere Hand, oder irgendetwas, das mit einem Problem ringen könnte? Ist nicht der Raum, aus dem du herausschaust, so leer und klar, dass es hier nichts gibt, was schief gehen könnte – anders gesagt, ist nicht der Raum problem-frei? Sind nicht die mit dem Problem einhergehenden Gefühle in das Problem statt in den Raum verwoben? Kommen und gehen sie nicht mit dem Problem? Egal was das Problem ist, kannst du nicht vom Problem, mit all seinen Implikationen, hin zur Erleichterung und Zuflucht reisen, Wer du bist? Lebst du nicht, auch bei erdrückenden Problemen, in der uneinnehmbaren Festung deiner wirklichen Natur?
Diese Beobachtung schafft das Problem nicht aus der Welt, platziert es aber da, wo es hingehört und wo es angegangen werden kann. Es wird klar, dass hier meine Identität ist und dort mein Problem, und dass Der, der ich bin – und damit auch mein echtes Selbstwertgefühl – nicht von verwirrenden oder aufreibenden Problemen abhängt, die mich beschäftigen.
Das ist keineswegs eine Entschuldigung dafür, das Problem zu ignorieren oder zu leugnen. So wie du weiterhin auf deine linke Hand schaust, während du zur Leere herabkommst, so behältst du auch das Problem weiterhin im Auge, aber vom Aussichtspunkt des Problem-freien aus. Genauso wenig ist es ein Weg, das Problem zu verleugnen. Dein Arm mit der Hand, die das Problem hält, gleicht einem Baum, der aus der Leere aufragt. Die Wurzeln des Problems liegen im Grund deiner wahren Natur, und wenn du siehst, Wer du bist, kletterst du den Baum herunter zur Wurzel des Problems, nicht aufwärts von ihm weg. Hier kommt das Problem ursprünglich her; die Leere ist genauso integral für das Problem, wie die Wurzeln es für den Baum sind.
Besteht jedoch die Gefahr, dass mein Abstieg in die problem-freie Leere zu einem Absturz in die Falle des Quietismus und der Resignation wird? Nicht, wenn ich weiterhin zwischen dem entfernten und nahen Ende meines Arms unterscheide. Denn wenn ich meinen Arm zur problem-freien Leere herabklettere, lasse ich das Problem in meiner Hand nicht notwendigerweise los. Meine Hand hält das Problem nach wie vor fest, und ich arbeite weiterhin daran, es bestmöglich zu lösen, unter Zuhilfenahme aller Werkzeuge, die mir zur Verfügung stehen. Zugleich jedoch bemerke ich etwas ganz anderes am nahen Ende meines Arms: hier gibt es nicht nur kein Problem zu greifen, sondern auch keine Hand, die etwas greifen könnte. Hier kann ich gar nicht loslassen, weil ich nie festgehalten habe. Keine Hand, kein Zugreifen, kein Lösen des Griffs. So wie ich für die Liebe offen gebaut bin, so bin ich Problemen offen ausgeliefert – aber in einer Weise, die das Problemlösen da draußen, wo Probleme „gehändelt“ werden, erleichtert.
Der dritte und letzte Schritt in der Übung widmet sich dieser Gegenseite von Problemen – Lösungen. Während du deine linke Hand oben belässt, hebe deine rechte Hand im gleichen Winkel, aber leicht nach rechts versetzt. Schaue sie an, und stelle dir vor, dass sie eine mögliche künftige Lösung für das Problem in deiner linken Hand repräsentiert. Mache dir klar, dass die Lösung notwendigerweise temporär sein wird, Gegenstand von Revisionen oder Vereinfachungen, und dass sie schließlich veraltet. Und so wie das Problem, zieht auch die Lösung Gefühle an: Gefühle von Erfolg, Vertrauen oder Erleichterung. Aber all diesen Merkmalen liegt die Tatsache zugrunde, dass die Lösung (wie das Problem) da draußen in der Welt am Ende deines Arms platziert ist. Steige den Arm herab zur Leere, und du wirst feststellen, dass deine wirkliche Natur bar aller Lösungen wie Probleme ist. Du bist nicht nur problem-frei, sondern auch lösungs-frei. Und genauso, wie du an der Wurzel des Problems bist, bist du auch an der Quelle der Lösung. Wenn du nach Hause zur Leere kommst, gelangst du zum großen Lagerhaus für Lösungen. Was für ein praktischer Ort um anzukommen: die Kluft, die das Problem mit seiner Lösung verbindet, die Kluft, die sowohl die Ursache des Problems als auch die Quelle seiner Lösung ist! Tatsächlich ist dieser „Ort“ fantastisch, denn hier finde ich die ultimative Ursache aller Probleme und die ultimative Quelle aller Lösungen. Es ist wie ein Masterschlüssel, der das innere Geheimnis allen Problemlösens erschließt.
Was ist dieses innere Geheimnis? Vielleicht ist es Folgendes: obwohl ich keine Probleme möchte (ich möchte sie in Lösungen wandeln), und die Lösungen, die ich bekomme, nie zufrieden stellend bleiben, habe ich genau Hier bereits das, was ich wirklich will. Während die Probleme auf ihrer eigenen Ebene nur teilweise lösbar sind, ist Hier, darunter und dazwischen und darin, die Auflösung perfekt. Diese Auflösung ist immer vorhanden, Hier, wenn ich sehe, Wer ich bin. Das ist das wahre und befreiende Geheimnis, das meinen Problemen zugrunde liegt.
Es gibt einen weiteren Aspekt, den das Experiment für mich zu klären hilft, und das ist der Aspekt des Konflikts zwischen persönlichem Willen und Gottes Willen. Woher weiß ich, dass das, was ich will, das ist, was Gott will? Um diese Frage zu beantworten, schaue ich wieder heraus zu meinen Händen. Da draußen sind Probleme und Lösungen, Handlung, Anstrengung und Willenskraft. Da draußen sind alle Bedürfnisse und Befriedigungen meines Lebens. Ich schaue meine Arme herunter zur Kluft zwischen ihnen. Hier ist Nicht-Wollen, Nicht-Handeln, Nicht-Wille: ‚wahlfreie Bewusstheit’. Diese Arme erstrecken sich in die Welt des Willens und der Handlung nicht von meinem Kopf aus sondern aus der leeren Gottheit heraus. Diese Arme sind Gottes Arme, und sie erfüllen Gottes Willen. Und so wie Gott die linke wie die rechte Hand bewegt, so entscheidet er sich für Probleme wie Lösungen, denn die beiden sind untrennbar, zwei Enden einer Wippe, die auf dem stillen Drehpunkt von Gottes Willen ruht. Was ich wirklich möchte, hängt davon ab, Wer ich wirklich bin, und wenn ich Hierhin schaue, indem ich entweder vom Problem oder der Lösung herunterklettere in die Gottheit, dann bringe ich meinen persönlichen Willen in Übereinstimmung mit Gottes Willen und sage ja zu beiden. In diesem Moment lebt und wünscht und arbeitet Gott durch mich.
Das Diagramm repräsentiert das zentrale Thema dieses Essays. Es lautet, in Ramana Maharshis Worten: die Lösung meines Problems besteht darin, zu sehen, Wer es hat. Hier ist Erleichterung und Perfektion. Hier ist Hingabe, nicht Resignation. Hier ist letztendlich Gottes Wille, nicht meiner. Wie das Diagramm, so ist auch die Übung eine Karte – vereinfacht, allgemein, lediglich als Hilfsmittel gemeint. In gewisser Weise jedoch ist es auch die tatsächliche Reise, denn wenn ich die kurze Distanz vom Problem, mit dem ich ringe, zum problem-freien Raum hier zurücklege, betrete ich den Ort, an dem die fundamentale Frage, die von allen Problemen aufgeworfen wird, gelöst ist: Wer bin ich?
Fahre fort mit einem anderen Experiment